Erste Vorstellungen zur Tarifreform und Schritte zu ihrer Verwirklichung

Diese Vorstellungen wurden im Vorbereitungskomitee behandelt und werden dem außerordentlichen FDGB-Kongress als Grundsatzantrag vorgelegt.

Die Gewerkschaften treten für die uneingeschränkte Verwirklichung des Leistungsprinzips, als dem unverzichtbaren Handlungs- und Verteilungsprinzip unter den Bedingungen einer sozialen Marktwirtschaft ein. Das Leistungsprinzip soll künftig für alle gesellschaftlichen Bereiche, für alle Ebenen in der Wirtschaft und unter den Bedingungen aller vorhandenen Formen des Eigentums gelten.

Die Gewerkschaften setzen sich für eine von der Leistung abhängige dynamische Lohnentwicklung und begründete Einkommensrelationen zwischen den Beschäftigtengruppen und Wirtschaftszweigen ein. Dabei muss der Grundsatz: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit - unabhängig von Alter, Religion, Nationalität und Geschlecht, gelten.

Die künftige Lohn- und Tarifpolitik muss demokratisch, durchschaubar und für jedermann verständlich sein. Sie muss davon geprägt sein, dass der Arbeitslohn Haupteinkommensquelle für die Werktätigen und ihre Familien ist.

Eine leistungsgerechte Entlohnung und Prämierung und die Überwindung der Deformierung des Leistungsprinzips macht eine grundlegende Reformierung des Lohn-, Tarif- und Lohnsteuersystems in der DDR erforderlich. Diese Reform sollte ab sofort konzipiert und durch unaufschiebbare Schritte vorbereitet und zum frühestmöglichen Zeitpunkt begonnen werden.

Von einer solchen Reform erwarten die Gewerkschaften das Erreichen folgender Ziele:

1. Das Leistungsprinzip im Rahmen der gesamten Volkswirtschaft wirksam durchzusetzen, größere Lohngerechtigkeit in Bezug auf Qualifikation, wahrgenommene Verantwortung und Leistung zu erreichen;

2. Spürbare Impulse für Verwirklichung der Individualität und die Förderung von Kreativität auszulösen sowie,das Leistungsstreben der Werktätigen zu unterstützen,

3. die soziale Sicherheit der Arbeitenden zu erhöhen, indem die neuen Tarife zugleich einen sozialen Sockel darstellen, der vorn Staat garantiert wird,

4. die Lohn- und Tarifsysteme einfach und überschaubar zu gestalten.

Ein neues Tarifsystem sollte nach Auffassung der Gewerkschaften von folgenden Gesichtspunkten ausgehen:

- die Zahl der Tarifbereiche und Tabellen ist weiter zu verringern;

- die Tarife für alle Beschäftigtengruppen sind stärker nach Qualifikation und Verantwortung zu differenzieren;

- die unteren Einkommen sind weiter anzuheben;

- für artgleiche Tätigkeiten sind Querschnittstarife zu schaffen;

- Lohnzuschläge für besondere Arbeitsbedingungen sind zu reduzieren und zu vereinheitlichen;

- die Eingruppierungsunterlagen sind zu vereinfachen bei Erhaltung der Rechtssicherheit auf Lohn entsprechend der ausgeübten Arbeitsaufgabe.

Dieses Tarifsystem soll für die Werktätigen in Betrieben aller Eigentumsformen, auch der gemischten Betriebe, in der privaten Wirtschaft und in den Handwerks- und Gewerbebetrieben gelten. Die Gewerkschaften treten dafür ein, die Tarife nicht mehr nach territorialen Gesichtspunkten (Hauptstadt und Ortsklassen) zu differenzieren.

Auf der Grundlage eines reformierten Tarifsystems ist in den Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen eine wirksame Leistungsbewertung und leistungsabhängige Lohngestaltung zu organisieren. Der Lohnfonds soll in seiner Höhe maßgebend vom Betriebsergebnis und der Lohn des einzelnen von seiner vollbrachten Leistung abhängen.

Im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchführung der Lohn-, Tarif- und Lohnsteuerreform wird die volle Tarifautonomie der Industriegewerkschaften und Gewerkschaften und deren Partner aus der Wirtschaft durchgesetzt, die durch nichts und niemanden eingeschränkt werden darf.

Im Interesse einer koordinierten Vorgehens der Gewerkschaften und einer solidarischen Lohnpolitik wird vorgeschlagen, beim Gewerkschaftsbund eine zentrale Tarifkommission der Gewerkschaften zu bilden, der alle Zentralvorstände der IG/Gew. angehören. In dieser Kommission werden die gewerkschaftlichen Vorschläge für das neue Tarifsystem erarbeitet und abgestimmt. Diese Kommission ermächtigt künftig den Bundesvorstand, die Rahmenbedingungen für die Einkommens- und Tarifpolitik mit der Regierung auszuhandeln und zu vereinbaren.

Auf der Grundlage des mit der Regierung ausgehandelten Tarifrahmens sowie der Grundlinie der Lohn- und Tarifpolitik vereinbaren die Tarifpartner die Rahmenkollektivverträge und anderen arbeitsrechtlichen Regelungen, die rechtsverbindlich sind.

Alle RKV und anderen arbeitsrechtlichen Regelungen sind beim Gewerkschaftsbund zu hinterlegen.

In Vorbereitung auf die Lohn-, Tarif- und Lohnsteuerreform werden mindestens folgende Maßnahmen für erforderlich gehalten, mit deren Verwirklichung unverzüglich zu beginnen ist.

1. Im Zusammenhang mit der Stabilisierung der Volkswirtschaft fordern die Gewerkschaften von der Regierung und den zuständigen Leitern in der Wirtschaft sofort alle Maßnahmen einzuleiten, die eine kontinuierliche Produktion mit hoher Effektivität ermöglichen. Ohne solche Leistungsbedingungen ist eine uneingeschränkte Durchsetzung des Leistungsprinzips nicht möglich.

2. Den Kombinaten und Betrieben ist im Rahmen der Gewährung der ökonomischen Selbständigkeit zugleich ein größerer Freiraum für die wirksame, den Bedingungen der Betriebe entsprechende Leistungsstimulierung zu gewähren. Die in zunehmendem Maße selbst zu erwirtschaftenden Fonds für die Stimulierung sind im Rahmen des geltenden Rechts in eigener Verantwortung der Betriebe leistungsgerecht einzusetzen. Betriebsleiter und BGL sollten dazu im Betriebskollektivvertrag die entsprechenden Regelungen vereinbaren. Von hoher Bedeutung wird die ständige Aktualisierung der Leistungsmaßstäbe, der Arbeitsnormen und Leistungskennziffern angesehen. Lohnformen und Leistungskennziffern sollten die Arbeitsleistung auf ein hohes verfügbares Endergebnis richten, die Qualitätsarbeit fördern und eine hohe Effektivität zum Ziele haben.

Schrittweise sind leistungsgerechtere Relationen zwischen der Beschäftigtengruppen durchzusetzen.

3. Veränderungen von Subventionen und Preisen, die Auswirkungen auf die Lebenshaltung der Werktätigen haben, dürfen nach Auffassung er Gewerkschaften nicht zur Senkung des Reallohnes führen. Es wird deshalb gefordert, dass Preiserhöhungen und Subventionswegfall durch Zuschläge zum Lohn oder Tarif abgefangen werden Das erreichte Niveau sozialer Sicherheit darf nicht preisgegeben werden

4. Bis zur grundlegenden Reform des Lohnsteuersystems sind Teillösungen in Angriff zu nehmen.

5. Es wird von der Regierung und den wirtschaftsleitenden Gremien erwartet, dass die Vorschläge und Varianten einer Lohn-, Tarif- und Steuerreform so rechtzeitig der Öffentlichkeit vorgestellt werden, dass vor der Einführung eines neuen Tarifsystems alle damit zusammenhängenden Fragen gründlich mit den Gewerkschaften in den Betrieben und ihren Mitgliedern diskutiert werden können.

Tribüne, Do. 18.01.1990

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